In der Serie #wissentogo stellen wir dir spannendes Know-how aus unserem Grafikerinnen-Alltag vor. Manchmal über das Thema Design, ein andermal über Typografie oder etwas Technisches – aber immer etwas zum lernen. Deine Frage ist (noch) nicht beantwortet? Dann schreib uns!
Es gibt doch diese Fachbegriffe in den verschiedensten Berufen, bei denen sich alle anderen, die nicht aus der Branche sind, denken: «Bitte was?» Ja, auch bei uns im Grafikdesign gibt es die.
Nenn mich nicht Hurenkind*!
Vorab: Nein, wir wollen hier niemanden beleidigen oder diskriminieren. Hurenkinder gibt es in der Typografie. Das sind Satzfehler**, die den Leserhythmus stören und nicht gerade ästhetisch sind in der Gestaltung.
Ein Hurenkind (ältere oder weitere Namen: Hundesohn, Missgeburt oder Witwe(nzeile). Ja, Typografie kann brutal klingen.) wird die alleinstehende letzte Zeile eines Absatzes genannt, die auf die nächste Seite gerutscht ist, weil es keinen Platz mehr am Absatzende für sie gab.
«Einem alten Vorurteil nach wussten Hurenkinder nicht, wer ihr Vater war – ihre Herkunft war also unklar. Verarmt bettelten sie auf der Strasse. Verrutscht die letzte Zeile eines Absatzes auf die nächste Seite, weiss man beim Aufblättern dieser Seite nicht, auf welchen Inhalt sich diese erste Zeile bezieht. Die Herkunft der oben auf der Seite stehenden Zeile ging also verloren wie die eines Hurenkindes.» (Quelle: Wikipedia)
Schon lustig, oder?
Schusterjunge***, Waisen- oder Findelkind
Das ist sozusagen der umgekehrte Fehler: Das ist die alleinstehende erste Zeile eines neuen Absatzes, die noch alleine auf der vorherigen Seite steht. Eigentlich sollte diese mit dem ganzen Absatz auf einer neuen Seite landen.
«Früher waren es oft die Schuster, die Waisenjungen zur Lehre aufnahmen. Diese Schusterjungen mussten am Ende der Lehre den Haushalt verlassen und wussten die ganze Lehre über nicht, wohin sie danach gehen konnten. Schusterwerkstätten waren in der unteren Gebäudeetage. Hängt nur die erste Zeile eines Absatzes noch auf der vorherigen Seite, weiss man beim Lesen dieser einsamen Zeile nicht, wie es weiter geht. Das Weitergehen der unten auf der Seite stehenden Zeile ist also ungewiss wie das Leben eines Schusterjungen.» (Quelle: Wikipedia)
Wie poetisch und traurig.
Grafikdesign auch ein Handwerk
Hurenkinder und Schusterjungen gelten als handwerkliche Fehler – schon früher, als Bücher noch mit Bleisatz gestaltet wurden. Sie beeinträchtigen den Lesefluss und auch die Ästhetik des Satzspiegels stark.
In Luzern während unserer Ausbildung (2010–2014) – doch schon 10 Jahre her! – haben wir viele solche Regeln eingetrichtert bekommen. Luzern ist bekannt für gute typografische Arbeit und Plakatgestaltung. Das hat uns besonders gefallen. Denn wir sind «Tüpflischiisser». Wir sehen jeden falschen Apostroph, jedes Waisenkind und Bindestriche statt Gedankenstriche kommen uns schon gar nicht ins Haus! In der Agentur, in der wir vorher gearbeitet haben, nannten sie uns «Typografische Staubsauger». Darauf sind wir heute noch stolz!
* Das ist der offizielle typografische Begriff. Wir würden den Begriff «Hure» nicht brauchen.
** Satz in der Typografie = In der Typografie bezeichnet «Satz» (oder «setzen» als Verb) das Gestalten und Anordnen von Texten, Bildern und Grafiken zu einem ansprechenden und leserfreundlichen Layout.
*** Schusterkind würden wir bevorzugen, um genderneutral zu bleiben.
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